Mittwoch, 6. Januar 2010

Einladung an die Zukunft

Einladung an die Zukunft
Eigentlich fing alles so an. Als ich begann, für mein Zeitreise-Buch zu recherchieren, wurde mir klar, wie sehr ich mir wünschte, zu wissen, ob eines Tages Reisen in die Zukunft oder in die Vergangenheit einmal möglich sein werden. Das einfachste wäre natürlich, Beweise dafür zu finden, dass wir oder unsere Vorfahren schon einmal aus der Zukunft besucht wurden.

Als sich auf meinem Schreibtisch immer mehr Indizien anhäuften, die über merkwürdige Zeitphänomene, über Zeitsprünge und Zeitverschiebungserlebninsse von Sagen- und Mythenhelden (und -heldinnen selbstverständlich) berichteten, da merkte ich, dass mir das nicht reichte. Wie, so überlegte ich immer und immer wieder, könnte man denn die Zeit austricksen, um JETZT SCHON und GANZ PERSÖNLICH zu erfahren, ob Zeitreise erfunden wird oder nicht. Am besten, so dachte ich, wäre natürlich, von jemadem aus der Zukunft besucht zu werden.

Wer Besuch haben will, muss sich welchen einladen. Gesagt, getan! Ich hatte einen genialen Einfall! Ich würde ganz einfach eine Nachricht an meine künftigen Nachkommen verfassen mit der Bitte, mich hier und jetzt - in meiner Gegenwart oder meinetwegen in den nächsten Wochen, Monaten oder Jahren - zu besuchen. Ich würde einen Brief schreiben und diesen dann von Generation zu Generation weiterreichen lassen.

"Du spinnst ja!" so lautete der spontane Kommentar meiner Tochter Aino, als ich ihr von meinem Plan erzählte. Am meisten wurmte sie an diesem Plan offenbar die Vorbedingung, dass sie ihren Teil zum Gelingen desselben beizutragen habe durch das Zeugen eines oder mehrerer Nachkommen. "Ich will gar keine Kinder bekommen!" sagte sie kurz und knapp. Nun, dieser Spruch kam mir verdammt bekannt vor - und hätte ich mich daran gehalten, so gäbe es jetzt keine Aino (und auch keine potentiellen Brief-weiterreichenden Nachkommen).

"Okay", erwiderte ich, "da gibt es ja ausser dir noch meine Nichten und Neffen..."
Mit einem "Ach die!" wischte Aino sämtliche Nichten und Neffen vom Tisch. "Die verbaseln doch garantiert den Brief! Dann gibt ihn doch lieber mir! Ich werde ihn schon an einen würdigen Menschen weiterreichen, es muss ja nicht unbedingt ein direkter Nachkomme sein, oder?"

Nachdem ich also nun gnädigerweise grünes Licht für meinen Plan von meinem Nachkömmling erhalten hatte, konnte ich an die praktische Ausführung gehen. Leichter gesagt, als getan. Wochenlang grübelte ich nach über den Text-Inhalt, über haltbares Material (Papier? Plastik? Videobotschaft? USB-Stick? Auf CD brennen? In Stein ritzen?), über ein geeignetes Schreibgerät (Bleistift? Tinte? Tusche? Tintenstrahldrucker? Laserdrucker? Permanentmarker? Stickgarn auf Stramin? Immerhin hatte die Botschaft eine verflixt lange Zeit zu überdauern!) und über noch viel mehr.

Ich dachte nach über diebstahl- und vandalismussichere Aufbewahrungsorte, ich schlich wie ein Detektiv durch meine Wohnung und überlegte, wie ich etwas verbergen kann, das gleichzeitig unbedingt gefunden werden muss. Oder sollte ich den Brief bei einem Rechtsanwalt hinterlegen, der ihn dann seinerseits weiterzureichen hatte? Nein, zu teuer.

Und sollte ich für eine volle Reisekasse meiner zukünftigen Besucher sorgen, indem ich ihnen ein Sparbuch anlegte? Zins und Zinseszins, da war ich ganz sicher, würden dann das übrige hinzutun. Da gab es doch das alte Sparbuch, das ich neulich wiedergefunden hatte und das ich als kleines Schulmädel schon am ersten Tag einer Klassenfahrt bis auf die eine Pflicht-DM leergeräumt hatte (mir hatte da so ein kleines Plüsch-Eichhörnchen im Souvenirshop am Zusammenfluss von Fulda und Werra in die Augen gestochen und ein niedlicher Armbandanhänger und eine Vogelpfeife und...) - immerhin hatte sich das "Vermögen" inzwischen auf einen Euro verdoppelt, ganz zu schweigen von den Jahrhunderten, in denen sich darauf nun Zinsen ansammeln mochten...

Doch was sollte ich in den Brief hineinschreiben? Ich brütete wochenlang über einem perfekten Text - und mein Papierkorb füllte sich täglich aufs Neue mit verworfenen Entwürfen. Als eingefleischte Science Fiction-Leserin hatte ich natürlich einen listigen Einfall: Ich könnte doch meine Besucher aus der Zukunft bitten, mir diesen Brief mitzubringen. Dann brauchte ich den nur noch abzuschreiben... (Gute Frage nebenbei: Wer wäre wohl in so einem Fall der originale Verfasser des Textes???)

Aber halt mal - müssten sie nicht schon längst dagewesen sein? Ich fing an, mir verdächtig kommende Leute auf der Strasse kritisch zu beobachten und ich schreckte zusammen, wenn es in der Wohnung irgendwo raschelte. Nun, einem solchen Überraschungsbesuch würde ich ganz einfach mit einer Klausel im Brief entgegenwirken, die besagte, dass man bitte nicht einfach so wie aus dem Nichts in meiner Wohnung erscheinen möchte, sondern brav an der Haustüre zu klingeln habe.

Und wenn sie mich schon besucht hätten, ohne dass ich es bemerkt hatte? Nein, so sehr ich auch nachgrübelte, ich konnte mich an keinen komischen Onkel oder eine mysteriöse Tante erinnern, die mir ein paar gute Ratschläge aufzudrängen versucht hatten. Obwohl es da weissgott genug gegeben hätte, was man einer sehr viel jüngeren Ausgabe von mir hätte raten können. Doch was wäre gewesen, wenn so etwas geschehen wäre und ich mich an diese Ratschläge gehalten hätte? Hätte das nicht die gesamte Zukunft verändert? Vielleicht hätte ich in dem Fall nicht einmal Nachkommen, die ich einladen könnte, mich zu besuchen? Die hätten mir dann also keine Ratschläge geben können, die ich nicht befolgt hätte und die die Zukunft verändert hätten, und dann könnte ich doch den Brief schreiben und Besuch bekommen... Spätestens bei diesem Gedanken hatte ich das Gefühl, in meinem Kopf würde sich alles drehen.

Aber da war diese Frau in Berlin. Damals, vor vielen Jahren, gingen mein jetziger Ex-Mann (damals noch relativ neuer Freund) und ich eine Nebenstrasse des Ku'damm entlang, um wieder einmal einen Laden aufzusuchen, der englische Stilmöbel führte. Ausser uns war niemand in der Strasse - ausser einer älteren Frau, die uns aus einigen Metern Entfernung auf demselben Bürgersteig entgegen kam. Kurz bevor sie uns erreichte, blieb sie plötzlich wie vom Donner gerührt stehen und starrte uns an, als sehe sie einen Geist. Sie ergriff meine Hände, schaute mir mit einem Blick, den ich nie vergessen werden, in die Augen und sagte: "Ihr werdet eine Tochter haben und du wirst ihn zum weinen bringen." Sie starrte uns noch ein paar Sekunden lang an, so als könne sie nicht glauben, was sie sehe, und ging dann weiter. Wir kicherten nur und vergassen dies Ereignis bald. Nun - eine Tochter haben wir bekommen, aber zum weinen hat Er MICH gebracht. Soviel zu dieser Zukunftsprognose.

Später habe ich jedoch immer mal wieder darüber nachgedacht, wer diese Frau wohl gewesen sein könnte. Eine Besucherin aus der Zunkunft, die deshalb etwas aus meinem Lebenslauf kennen konnte? Eine Wahrsagerin? Oder - diese verrückte Idee kam mir eines Tages nach der Lektüre einer bizarren Zeitreise-Short-Story - war ich vielleicht selbst diese Frau gewesen? Fast wünschte ich mir, dass Zeitreise ncoh während meiner Lebenszeit möglich sein würde und ich in Berlin - sollte ich das genaue Datum des damaligen Ereignisses noch ermitteln können - selbst nachschauen könnte, wer diese geheimnisvolle Fremde damals war. Neulich war ich ein paar Tage in Berlin, um mal wieder nach einer neuen Wohnung zu suchen. Irgendwie kam ich auf die Schnapsidee, doch einmal durch diese gewisse Strasse zu gehen. Ich tat es, und ich ging sie entlang aus der Richtung, aus der damals die Frau auf uns zugekommen war. Fast war ich enttäuscht, dass mir kein blutjunges, verliebtes Pärchen entgegenkam, andererseits aber war ich froh darüber, denn ein wenig mulmig war mir schon zumute.

Doch zurück zu meinem Plan. Mir war natürlich klar, dass ich im Brief bei jedem Umzug meine neue Adresse nachzutragen hatte, denn ich wollte ja von meinem Besuch auch gefunden werden. Aber was, wenn ich dann gerade nicht zu Hause war und den wichtigsten Besuch meines Lebens verpasste, bloss weil ich just irgendwo in der Weltgeschichte rumgondelte? Wie wäre es, im Brief einen bestimmten Tag - vielleicht einmal pro Monat oder Jahr - vorzugeben sowie einen ganz präzisen Treffpunkt? Doch wo? Aus zahlreichen Science Fiction-Romanen wusste ich natürlich, dass da, wo heute noch ein Baum stand, morgen schon ein Betonklotz stehen oder eine befahrene Schnellstrasse oder sonst etwas sein konnte. Nein, da war es doch besser, es bei der eigenen Wohnung bzw. der meiner Nachkommen zu lassen. Diese Nachkömmlinge müsste ich dann nur noch dazu animieren, verlässlich stets ihre aktuellen Adressen nachzutragen. (Genauer gesagt musste ich ja zunächst erst einmal meine Tochter dazu bringen, Nachkömmlinge in die Welt zu seztzen.)

Je länger ich nachdachte, je klarer wurde mir, dass der grösste Schwachpunkt in meinem Plan der menschliche Faktor war. So viel hatte ich in meinen Lebensjahren auch schon spitz gekriegt: verlassen kann man sich nur auf sich selber. Also sollte ich den Brief nicht doch lieber irgendwo deponieren und die Nachkömmlinge aussen vor lassen? Sollte ich den Brief in einer Zeitkapsel vergraben? Doch wo? Und wie sollten meine Nachkommen davon erfahren?

Ich fing an, davon zu träumen, wie denn dieser Besuch aus der Zukunft stattfinden würde. Ich stellte mir vor, dass eines Tages jemand an der Tür stehen und fragen würde. "Sind Sie...? Ja, natürlich, du musst es sein. Ich erkenne dich. Wie gut du ausgesehen hast!"

Oder eine fremde Person - männlich oder weiblich war mir eigentlich ziemlich schnurz - würde Einlass begehren und sagen: "Hallo! Ich bin die Frau / der Gatte deines Ururururururenkels!" "Aber ich habe doch gar keinen Enkel..." "Noch nicht..."

Und wie bitte schön würde mein Besucher aus der Zukunft beweisen, dass er wirklich aus der Zukunft kommt? Diese Frage hielt mich wochenlang ganz schön auf Trab! Woran erkennt man einen Besucher aus der Zukunft? Wie würde ich denn selber beweisen, dass ich aus der Zukunft komme, wenn ich die Gelegenheit hätte, in die Vergangenheit zu reisen? Ich kann euch sagen, diese Spekulationen haben zahlreiche weinselige Abende mit Freunden und Bekannten ganz schön in Schwung gebracht!

Den Brief habe ich tatsächlich geschrieben. Ganz normal auf Schreibpapier mit einem Kugelschreiber, mit Tesafilm an der Innenseite meiner Wohnungstür in Augenhöhe befestigt - da bleibt er solange, bis ich eine bessere Idee habe für Material und Aufbewahrungsort. Für Anregungen wäre ich übrigens dankbar!

Das Buch habe ich natürlich auch geschrieben. Es heisst "Zeitreise - Gestern, Heute, Morgen - Auf den Spuren des grössten Abenteuers aller Zeiten" und ist 2003 erschienen.

So, ich muss aufhören zu schreiben, es hat gerade an meiner Tür geklingelt. Wer weis..................

P.S. Das klingt jetzt total verrückt, aber ich habe ein Blind Date mit einer Zeitmaschine im Dezember 2012 im Queensland, Australien. Und nicht nur ich alleine. Neugierig geworden? Dann empfehle ich einen Blick auf die website:
http://www.timemachine1212.com